Ein Beispiel aus der Lokalpolitik zur schleppenden Krisenbewältigung im Naturschutz

Die Ablehnung der Erweiterung des Naturparks Schwalm-Nette

Bereits in diesem Jahr 2024 hatten wir in Deutschland massive Überschwemmungen in Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Saarland und zuletzt in Süddeutschland. Laut Sachstandsbericht 2022 des IPCC werden wir in Zukunft mit noch größeren Risiken rechnen müssen. In Griechenland wie in einigen Gegenden auf anderen Kontinenten litten die Menschen schon vor Sommeranfang unter extremer Hitze mit Temperaturen von 40 bis zu 50 Grad. Zum Schutz vor Waldbränden mussten Menschen evakuiert werden und Erdrutsche begruben Dörfer unter sich.

Es braucht transformative Maßnahmen zur Abwehr der immensen Folgeschäden. Aber wir neigen offensichtlich in der Breite dazu, die Probleme des Klimawandels noch immer nicht richtig zu erkennen oder aber zu verdrängen, genauso wenig wie die Folgen des Artensterbens. Die Emissionen steigen weiter, weitaus schneller als jemals in den letzten 50000 Jahren. Aber wir fliegen wie eh und je. Geschwindigkeit auf den Straßen – kein Thema. Wir konsumieren und verschwenden und denken nicht daran, dass unsere Ressourcen endlich sind. Und wir zerstören weiter die wichtigen Lebensräume für die Artenvielfalt.

Zu diesen Katastrophen kommen andere Krisen, vor allem noch die Zerstörung durch die Kriege. Ist das alles zu viel, dass wir nicht mehr in Lage sind, alles aufzunehmen, zu verarbeiten und für Veränderung zu sorgen? Wenn einzelne sich dabei in Sachen Krisenbewältigung überfordert fühlen, ist das nachvollziehbar.

Gilt das auch für Politik und Wirtschaft? In der Finanzrecherche „Investing in Climate Chaos“ von 2024 als Beispiel aus der Wirtschaft wurden Geldanlagen von 7500 Investoren global untersucht. Es zeigte sich, dass die Investoren immer noch Milliardensummen als Anlagen in fossile Unternehmen stecken. Und das geschieht vor dem Hintergrund, dass wir auf eine existenzbedrohend heiße Welt zusteuern.  Der EU-Klimadienst Copernicus teilte in seinen neuesten Daten mit, dass wir in den letzten zwölf Monaten weltweit mit 1,64 Grad über dem Mittelwert von 1850 – 1900 lagen und das Pariser Klimaabkommen schon jetzt nicht eingehalten ist. Und auch die Politik wird bei der Bedrohung durch den Klimawandel und die Naturzerstörung nicht den Durchbruch bringen können. Als Beispiel hierzu: Die angekündigte Kraftwerksstrategie wird nicht ausreichen, um den zukünftigen Strombedarf jenseits von Kohle-, Öl- und Gasnutzung sicherstellen können. Technologischer Fortschritt und CO2 -Preis halten den Klimawandel und die Naturzerstörung nicht auf. Außerdem ist die Regierung eingeschränkt in ihrem Handeln, weil sie einerseits von den Einnahmen der Unternehmen abhängig ist, andererseits die Akzeptanz der Zivilgesellschaft braucht, wenn sie wiedergewählt werden will.

Schon 2009 schrieb Ulrich Brand in einem Beitrag der Heinrich-Böll-Stiftung, dass die Komplexität der Probleme und Krisendynamiken tendenziell zu einer Überforderung führe. Und dies generell beim einzelnen, der Gesellschaft und den politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsträgern. Damals gab es eine Bankenkrise und man hatte sich auf diese besonders fokussiert, obwohl der Klimawandel, die biologische Vielfalt, Hunger, Migration, soziale Spaltung und Misstrauen gegenüber der Politik durchaus auch als Krisen sichtbar waren. Aber der Zusammenhang mit anderen Krisen wurde ausgeklammert. Es gibt Parallelen, nur dass unsere gegenwärtige politische Elite den Fokus auf die Krisenbewältigung in den Kriegsgebieten gerichtet hat und auf das Wirtschaftswachstum unter Vernachlässigung der Bewältigung anderer Krisen, vor allem der Klima- und Biodiversitätskrise. Dabei müssten wir viel mehr in Klimaschutz und Klimaanpassung investieren, für mehr Naturschutz sorgen, um die Artenvielfalt zu erhalten und die Landnutzung in den Kulturlandschaften nachhaltiger zu machen.

Zu dieser Notwendigkeit passt gar nicht, dass am 13. Juni 2024 im Kreistag die Erweiterung des Naturparks Schwalm-Nette abgelehnt wurde. Dazu muss man zunächst einiges wissen: Der Naturpark Schwalm-Nette ist ein Zweckverband der Kreise Viersen, Heinsberg und Kleve sowie der Stadt Mönchengladbach. In Naturparken überwiegen Landschaftsschutzgebiete und Naturschutzgebiete. Sie sollen die Kulturlandschaft und die Arten- und Biotopvielfalt in der Naturlandschaft erhalten, entwickeln oder wiederherstellen und auch eine umweltgerechte Landnutzung sicherstellen. Naturparke tragen maßgeblich zum Arten- und Biotopschutz bei, da der Anteil von Naturschutz-, Landschaftsschutz- und Natura 2000-Gebieten hoch ist.

Im Naturpark Schwalm-Nette sind zum Beispiel die Feuchtgebiete entlang von Nette, Niers, Schwalm und Rur wegen ihrer artenreichen Fauna und Flora für den Naturschutz überregional bedeutsam. In Grefrath ist das Gebiet der Nette bei Vinkrath als Natura 2000-Gebiet ausgewiesen. Laut Amtsblatt L 198/41 der EU bildet dieser Netteabschnitt „ein wichtiges Vernetzungselement zwischen dem System der Niers und dem verzweigten Fließgewässersystem von Nette und Renne mit wichtigen Vorkommen von Steinbeißer und Bitterling“.

Da die Nette noch ein begradigter Fluss ist, ist laut Fachinformation aus der Liste der Natura-2000-Gebiete das Entwicklungsziel die Renaturierung dieses Fließgewässers mit extensiv genutzten Uferstreifen und einer extensiven Grünlandbewirtschaftung in der Aue. Eine Minderung der Nährstoffeinträge würde sich positiv auf das Leben im Gewässer auswirken.

Im Herbst 2018 wurde die Nette südlich von Wachtendonk schon renaturiert, wo durch Umgestaltung der Uferstreifen ein naturnahes Gewässerbett entstand, und im Frühjahr 2019 wurde die Nette in Viersen-Boisheim umgestaltet. Dazwischen liegt das Feuchtgebiet an der Nette in Vinkrath. Beim neuen auf EU-Ebene beschlossenen Gesetz zur Wiederherstellung der Natur geht es um solche Renaturierungen. Professor Josef Settele, Agrarbiologe und Leiter des Departement Naturschutzforschung am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Halle, berichtet von einer Studie, in der die Artenvielfalt von Schmetterlingen in Natura-2000-Gebieten mit der in nicht geschützten Gebieten im Zeitraum von 2005 bis 2015 verglichen wurde. In beiden Gebieten sei die Vielfalt um 10 Prozent zurückgegangen. Der Unterschied sei gewesen, dass das Niveau schon zu Beginn in den Naturschutzgebieten höher gewesen sei, aber der Trend derselbe. Schmetterlinge gelten als Indikatoren für den Zustand der Artenvielfalt, und dieser Zustand ist dramatisch schlecht. In einer Studie zu den planetaren Grenzen vom 13.09.2023, erschienen in „Science Advances“, wurden erstmals planetare Belastungsgrenzen quantifiziert, die bei Überschreitung die Stabilität unseres Erdsystems gefährden. Mit dem höchsten Risiko behaftet ist dabei die Biosphäre, deren Funktionieren insbesondere durch die genetische Vielfalt möglich ist. Die belastbare Grenze ist bei der genetischen Vielfalt deutlich überschritten (Katherine Richardson et al. Earth beyond six of nine planetary bounderies 13.09.2023 10.1126/sciadv.adh 2458).

Um eine weitere Verschlechterung aufzuhalten, ist es wichtig, die Distanzen zwischen den einzelnen Ökosystemen zu überbrücken, damit die genetische Vielfalt erhalten werden kann.

Da wäre eine Verbindung vom Feuchtgebiet an der Nette in Vinkrath über das Naturschutzgebiet Grasheide zum Naturschutzgebiet „Tote Rahm“ auf Kempener Gebiet von großem Nutzen. Die Erweiterung des Naturparks sah unter anderem die Erweiterung im Norden bis zur Toten Rahm vor. Die Tote Rahm war früher ein Niedermoorgebiet, das aber aufgrund starker Nässe nicht wirtschaftlich genutzt wurde. Heute ist es ein charakteristisches Feuchtbiotop mit typischen Pflanzen- und Tierarten einer Bachaue. Settele erklärt zu den Feuchtgebieten, dass bei intensiver Nutzung zu viel Stickstoff in die Böden gebracht werde, dann verschwinden die Arten, die nährstoffarme Böden brauchen. Das Renaturierungsgesetz eröffne Möglichkeiten einer nachhaltigen Nutzung, da wo noch zu intensiv bewirtschaftet wird.

Als positives Beispiel, was man tun kann, sei der Naturpark Arnsberger Wald genannt. Dort hat man gerade den Naturparkplan 2033 entwickelt, der als Arbeitsgrundlage für die nächsten zehn Jahre dienen soll und viele Anregungen zum Nachmachen enthält. Leitprojekt 1 betrifft eine Austauschplattform Naturschutz mit Schwerpunkt eines Biotopverbundes. Hier geht es um die Förderung von gemeinsamen Projekten mit dem Ziel der Schaffung eines Netzes von Lebensräumen, die das Überleben der Tier- und Pflanzenarten sichern. Dabei ist eine Vielzahl von thematischen Schwerpunkten aufgelistet wie z.B. die Dokumentation von benötigten Korridoren und Leitarten, die Vernetzung von Schutzgebieten im Park oder das Freihalten von Offenland durch Beweidungskonzepte, um nur drei von sehr, sehr vielen, zu nennen.

Für den erweiterten Naturpark Schwalm-Nette wäre die Einrichtung einer solchen Austauschplattform mit Schwerpunkt Biotopverbund ein großer Gewinn, um Projekte zur Vernetzung der Lebensräume von der Nette bei Vinkrath über Grasheide, Altbuchen an Harbes Hof, den Niersgraben, Schlootkuhlen, den breiten Eschel, die schwarze Rahm bis zur toten Rahm hinzukriegen. Und mit den nationalen Plänen zum „Restoration Law“, ist ja vermutlich auch die Aussicht auf Förderung gegeben. Das Land jedenfalls unterstützt Naturparke bei der Aufstellung von Naturparkplänen und der Umsetzung von Projekten. Deshalb erklärt sich nicht, warum ein politisches Gremium diese Option mit der Naturparkerweiterung sich nicht vorhält, wenn hierdurch geeignete Flächen zur Renaturierung identifiziert und gefördert werden können und ein vergrößertes Naturparkgebiet den Verbund der Naturschutzflächen im Sinne der genetischen Vielfalt stärken kann.

Die Blockade einer Naturparkerweiterung im Kreistag ist vermutlich politisch-ökonomisch motiviert. Keine kommunale Planungshoheit verlieren gegenüber dem Naturschutz, keine weiteren Reglementierungen bei der landwirtschaftlichen Nutzung dulden. Und schon bleibt der Status quo erhalten.  Sprich: 80 Prozent der geschützten natürlichen Lebensräume Europas blieben geschädigt, würden alle so denken. Dabei ist die Erkenntnis doch heute allgemein die, dass möglichst viel Natur und besonders Schutzgebiete zu erhalten und wiederherzustellen sind und die landwirtschaftlichen Flächen naturnäher bewirtschaftet werden sollten. Das ist die wichtige Grundlage für eine funktionierende Landwirtschaft.

Bleibt die Frage, ob die Politik hier überfordert ist mit der Komplexität des Themas oder ob die Erweiterung des Naturparks nur blockiert ist durch verschiedene Partikularinteressen, obwohl das Ziel doch für alle sein sollte, noch mehr unserer Kulturlandschaften zu erhalten, die „wahren Perlen der Biodiversität, wo die meisten bedrohten Arten leben“, wie es Professor Settele formuliert.

Die endgültige Entscheidung über die Erweiterung trifft die Verbandsversammlung des Naturparks Schwalm-Nette im September.